Der Trucker, der den Falschfahrer ausbremste

  • Der Trucker Jürgen Thesing aus Niedersachsen hört auf der Autobahn, dass ihm ein Falschfahrer entgegenkommt. Er beschließt sofort: "Das kann ich nicht zulassen." Er baut mit einem anderen Lkw eine Sperre auf und stoppt den Geisterfahrer. Es ist ein seltener Fall von Zivilcourage auf deutschen Straßen.

    In der Nacht, in der Jürgen Thesing sein Leben für andere riskiert, fallen daumendicke Schneeflocken. Minus fünf Grad zeigt das Außenthermometer des Lkw, aus dem Radio erklingen melancholische Weihnachtslieder. Nur noch drei Tage bis Heiligabend.Der Mann aus Friesoythe, einer Kleinstadt in Niedersachsen, fährt seine letzte Tour vor dem Fest. Käse, Wurst und Garnelen liegen im Heck des 18-Tonners. In etwa vier Stunden erwartet der Lebensmitteldiscounter Lidl die Ladung in Kerpen. Neben Thesing sitzt seine Freundin Jasmin. Seit der Trucker mit Knieproblemen kämpft, begleitet die zierliche Frau ihn bei seinen Touren. Sie friert, während ihr Lebensgefährte T-Shirt trägt. Wie immer, egal, ob bei 30 Grad plus oder Minusgraden, das Fenster steht stets einen Spalt offen.

    Thesing steuert seinen 440 PS starken MAN Höhe Cloppenburg im weichen Bogen auf die Autobahn 1. Für ihn räumt ein Laster aus Schweden die rechte Spur. Er greift zu seinem Funkgerät, bedankt sich auf Deutsch - und erhält überraschend Antwort in der eigenen Sprache. Ein glücklicher Zufall, der später womöglich Menschenleben rettet. Die beiden plaudern. "Wo fährst du hin. Wo arbeitest du?" Freundschaftlicher Trucker-Talk, um die monotone Zeit hinter dem Lenkrad totzuschlagen. Bis von der Gegenspur die beiden Lkw-Fahrer eine Nachricht ereilt.

    "Passt auf, da kommt ein Geisterfahrer!", warnt ein Kollege über Funk. Erst ignoriert Thesing die Nachricht, er denkt an einen "schlechten Scherz". Dann melden auch andere den Fahrer, der wie ein Gestörter gegen den Strom anfährt. "Das kann ich nicht zulassen", denkt Thesing. Er greift erneut zu seinem Funkgerät. "Teddy", wie ihn seine Kinder nennen, zögert keine Sekunde. Eine rühmliche Ausnahme. Denn nach einer Umfrage des Reifenherstellers Goodyear mangelt es einem Großteil der Deutschen an Zivilcourage. Weniger als die Hälfte hilft bei Unfällen sofort, die Mehrheit zögert oder unternimmt gar nichts. Lediglich 38 Prozent der Befragten gaben an, dass sie sofort in einer Notsituation helfen würden. Häufigste Begründung: die Angst, selbst in Gefahr zu geraten. Thesing funkt den Trucker aus Schweden an. Er will den Falschfahrer stoppen. Gemeinsam mit dem fremden Lkw-Fahrer beschließt er, nebeneinander zu fahren und so einen Schutzschild zu bauen. "Bist du dir sicher? Es ist dein Leben", gibt der Brummi-Fahrer aus Skandinavien zu bedenken.

    Die beiden Laster bilden nun eine Wand, drosseln das Tempo auf 40 bis 50 km/h. Stoisch und mit der Sicherheit der Stärkeren rollen die Brummis dem Geisterfahrer entgegen. Hinter ihnen ein Hupkonzert von Autofahrern, die nicht ahnen, dass die beiden für sie Schutzengel spielen. "In dem Moment habe ich an gar nichts gedacht", erzählt der heute 45-Jährige im Nachhinein. "Der Gedanken, dass zu Hause unsere Töchter und Söhne warten, die kamen mir erst später."

    Die Stimme des bärigen Mannes, 160 Kilo auf den Rippen, Augenbrauenpiercing, klingt dabei weich, fast verletzlich. Den gleichen Tonfall schlägt er an, wenn er vom Abschiednehmen von seinen Kindern erzählt. Vor jeder Tour fallen ihm und Jasmin die Jüngeren in die Arme, drücken Mutter und Vater einen Schmatzer auf die Wange. "Fahrt vorsichtig", mahnen sie fürsorglich. Er antwortet stets: "Ich gebe mein Bestes."

    Das Licht des Geisterfahrers taucht auf. Die beiden Lkw setzen ihre Lichthupe ein, die Warnblinkanlage arbeitet bereits. Wie bei einem Duell stehen die Fahrzeuge plötzlich voreinander. Jasmin schreit aus dem Fenster: "Stopp, Stopp!" Doch der Falschfahrer, unterwegs in einem Mercedes Sprinter, legt den Rückwärtsgang ein. Er versucht zu flüchten.

    Jedes Jahr werden 2400 bis 2700 Fälle gemeldet, in denen Fahrzeuge entgegen der vorgegebenen Richtung unterwegs sind. Laut ADAC entpuppt sich davon nur ein Viertel tatsächlich als Falschfahrer. Im Schnitt sterben 20 Menschen jährlich bei Zusammenstößen mit Falschfahrern. 2012 waren es 26. Erst kürzlich stand ein 33-Jähriger aus Bayern wegen Mordes vor Gericht. Stark alkoholisiert war er frontal mit dem Auto einer 59-Jährigen zusammengestoßen. Die Frau starb noch am Unfallort. Der Mann erhielt eine Haftstrafe von viereinhalb Jahren.

    Thesing gelingt es, den Falschfahrer einzukeilen - ohne ein Fahrzeug zu beschädigen. Der Trucker steigt aus dem Wagen und erklärt dem Fahrer, dass er in der falschen Richtung unterwegs ist. Der Mann kommt aus Belgien, spricht kein Deutsch. Thesing belehrt ihn auf Englisch. Dann bricht der Belgier, ein Familienvater, zusammen. Er legt den Kopf aufs Lenkrad, fängt an zu weinen: "Das kann ich nie wiedergutmachen." Plötzlich redet der Mann wie ein Wasserfall. Auf einer Raststätte habe er kurz pausiert, die Augen geschlossen und dann böse geträumt, erklärt er. Unter dem Eindruck eines Alptraums raste er los.

    Die Polizei, die Thesing und weitere Autofahrer verständigt haben, trifft etwa 15 Minuten später ein. Sie zollt dem Lkw-Fahrer Respekt. Zwar rät die Polizei grundsätzlich von solchen Wild-West-Manövern ab, in diesem konkreten Fall ließ "die individuelle Verkehrssituation so eine Aktion zu", urteilte Polizeisprecher Georg Linke von der zuständigen Polizeistelle in Osnabrück. Jürgen Thesing ist für seinen Einsatz mit der Auszeichnung "Held der Straße des Monats März" belohnt worden.

    Seit mehreren Jahren schon suchen der Reifenhersteller Goodyear und der Automobilclub von Deutschland Menschen mit Zivilcourage und zeichnen diese im Rahmen eines Wettbewerbes aus. Am 3. Dezember wird aus allen Beteiligten der Held des Jahres 2013 in Berlin gewählt. Gefragt, ob er beim nächsten Mal wieder so handeln würde, antwortet Thesing: "Jederzeit: Nicht um Aufmerksamkeit zu erlangen, sondern zu beweisen, dass ich Zivilcourage besitze."


    Quelle: Spiegel online

    Der immense Usus exterritorialer Vokabeln in der germanistischen Linguistik ist mit dezidiertem Fanatismus auf das maximale Minimum zu reduzieren!

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