Blog zu Busunfällen Da geht noch was!

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    Alle Jahre wieder kippen Busse um oder verunfallen anderweitig. Im April sind gleich mehrere schlimme Unfälle passiert. Zeit für unseren Gastautor und Busexperten Thorsten Wagner, eine neuerliche Selbstverpflichtung der Industrie zu fordern.

    Moderne Busse sind sicher! Das ist unbestritten, egal welche statistische Grundlage man zurate zieht. Im seltenen "Fall des Falles" stellt sich dann aber trotzdem schnell die Frage, ob es um technisches oder menschliches Versagen geht. Oder irgendetwas dazwischen.

    Unselige Unfallserie mit Doppeldeckern

    Die vier in enger Reihenfolge im April dieses Jahres umgekippten Doppeldecker bilden jeweils das klassische Unfallbild des Reisebusses ab, des Doppeldeckers zumal: das folgenschwere Abkommen von der rechten Fahrspur. Ist der vordere rechte Reifen des bis zu 26 Tonnen schweren Busses erstmal im weichen Bankett versunken, führt oft kein Weg am Umkippen vorbei.

    Doppeldecker neigen mit ihrem höheren Schwerpunkt konzeptbedingt etwas mehr hierzu. Die Struktur des Gerippes und die Überlebensräume der Passagiere fallen bauartbedingt dazu schwächer bzw. knapper aus, weil die sonst für Busse gültige Umsturzrichtlinie ECE R66.02 für den Doppeldecker nicht zur Anwendung kommt. Umso wichtiger also, dass die Industrie alles technisch Mögliche tut, um das Abkommen von der Straße so zuverlässig zu verhindern, wie es irgend geht.

    Aktive Spurführung bisher eine Seltenheit

    Grundlegend gibt es seit rund 20 Jahren aktive und radargestützte Abstandshalter und passive, kamerabasierte Spurhaltesysteme, die jedoch nur durch Vibration im Sitz warnen, nicht aber aktiv in die Lenkung eingreifen. Beide Systeme sind ebenso gesetzlich vorgeschrieben wie die segensreichen Notbremsassistenten, die eigenständig vor dem Stauende oder in anderen Situationen bremsen, sollte der Fahrer dies aus irgendeinem Grunde nicht tun. Aktive Spurhaltesysteme wie im Pkw wurden für den Bus zuerst im letzten Jahr von Marktführer Daimler mit den Marken Mercedes-Benz und Setra mit dem System "Active Drive Assist 2" (ADA 2) eingeführt. Daimler eilte schon oft in der Sicherheitsentwicklung dem Gesetz voraus und setzte so Branche und Gesetzgeber (hier meist die EU) unter Zugzwang.

    Das letzte große Paket der europäischen Gesetzgebung hört auf den Namen "General Safety Regulation" (GSR). Sie wird in drei zeitlichen Stufen bis 2029 eingeführt. Mitte 2024 werden für den Bus viele sinnvolle neue Systeme wie radargestützte Abbiegeassistenten oder Müdigkeitswarner zur Pflicht, nicht aber der erwähnte aktive Spurhalteassistent – der wird nur für Pkw und leichte Nutzfahrzeuge gefordert! Das hat zur Folge, dass die wenigsten Hersteller dieses freiwillige System im Angebot haben. Gerade kleine Busbauer tun sich hier schwer.

    Zur Implementierung der neuen Technik in die Fahrzeuge ist schließlich die neueste Elektronikplattform nötig, und die ist oft an die langen Modellzyklen von rund zehn Jahren gekoppelt. Das Ausrollen der neuen Plattformen ist teuer und aufwendig, gerade für Modelle mit kleinen Stückzahlen wie Doppeldecker, von denen in Europa nur rund 500 Stück im Jahr verkauft werden (bei rund 5.000 Reisebussen gesamt). So verwundert es kaum, dass Daimler seinen 2018 runderneuerten Doppeldecker Setra S 531 DT noch nicht auf die neue Elektronik seiner Eindecker umgestellt hat – die aktive Spurführung bis auf weiteres also nicht erhältlich ist, wie seit Mitte letzten Jahres bei den anderen Setra-Modellen. Alle vier kürzlich verunfallten Busse waren solche Setra-Doppeldecker der 400er oder 500er Baureihe.

    Notfall-Halteassistent als unverzichtbarer Lebensretter

    Durch das ADA-2-System hätten womöglich einige der vier Unfälle verhindert werden können – bei allen Unwägbarkeiten im fragilen Zusammenspiel zwischen Technik und Physik. Denn neben der selbsttätigen Rückführung des Busses in seine Spur kann das ADA-2-System von Daimler sogar erkennen, wenn der Fahrer eine gewisse Zeit nicht mehr reagiert, also nicht mehr lenkt oder andere Fahraktionen ausführt. Nach mehreren Warnungen leitet das System dann selbstständig in der eigenen Spur unter Berücksichtigung von möglichen Hindernissen einen Notstopp am Straßenrand ein. Ein höchst sinnvolles System, was derzeit ausschließlich Daimler für den Bus anbietet, und das auch nicht gesetzlich gefordert oder nur erwähnt wird.

    Ganz nebenbei: Auch der automatische "E-Call" im Notfall, seit 2018 für alle Pkw verbindlich, ist beim Nutzfahrzeug weder gefordert noch erhältlich. Fakt ist also: Zwei der wichtigsten Systeme, die schlimme Unfälle verhindern könnten, sind weder gesetzlich gefordert, noch unabhängig davon im breiten Markt angekommen.

    Da die GSR hier erkennbar lückenhaft ist, sollte die Industrie in Europa ernsthaft über eine Selbstverpflichtung nachdenken. Wie schon 2003, einem anderen schlimmen Busunfall-Jahr, in dem deutsche Hersteller (und nur die) sich verpflichteten, Reisebusse auch bergab und mit Rückenwind bei strich 100 km/h elektronisch einzubremsen. Der Spieß wurde also umgedreht und die EU zur Abwechslung mal unter Zugzwang gesetzt.

    Anschnallen so selbstverständlich wie in Pkw und Flieger

    Und dann wäre da noch das Thema Anschnallpflicht, das mit schöner Regelmäßigkeit diskutiert wird. Fakt ist, dass das Anschnallen im Überland- oder Reisebus genauso selbstverständlich sein sollte, wie im eigenen Pkw oder im Flugzeug. Aber davon sind wir leider meilenweit entfernt – aus den unterschiedlichsten Gründen.

    Auch die Passagierin des ersten Leipziger Unfallbusses, die in einigen Medien zuweilen als "Kronzeugin" der Vorgänge im Bus zitiert wird, gibt zu, selbst nicht angeschnallt gewesen zu sein, "weil sie den Gurt nicht gefunden" hätte. Und hier liegt womöglich tatsächlich einer der kritischen Punkte: Statt wie in Skandinavien oder den USA, wo Drei-Punkt-Gurte an massiven Sitzen wie im Pkw Standard sind, hat sich im Rest Europas seit vielen Jahren der Zwei-Punkt-Beckengurt samt weicher Sitzstruktur etabliert – vielleicht gerade, weil er so unauffällig ist? Auf Wunsch bekommt der Kunde zwar auch Drei-Punkt-Gurte, und an den exponierten Plätzen vor festen Einbauten wie der Küche oder vor flexiblen Klapptischen müssen sie ohnehin verbaut sein. Aber die selbst aufrollenden Beckengurte sind tatsächlich schlecht zu erkennen, wenn man nicht gezielt danach sucht. Wenn dann noch die gesetzliche Durchsage mit dem Hinweis auf die Gurtpflicht entfällt, dann fehlt vielen Passagieren schlichtweg der Anlass, um zum Gurt zu greifen.

    Konzeptionell schützen die Beckengurte weitgehend genauso gut wie die eher für den Frontalaufprall konzipierten Drei-Punkt-Gurte, die den Fahrgast bei einem Überschlag bei entsprechend großer "Gurtlose" (ein nicht straff anliegender Gurt) nicht unbedingt besser auf dem Sitz hält – es kann sogar das Gegenteil der Fall sein. Gerade das aber ist das Wichtigste bei einem Busunfall, wie man auch an den neuerlichen Unfällen wieder sehen kann. Hier bedarf es also noch einiges an Aufklärungsarbeit, die wir beim Pkw bereits seit rund 50 Jahren schon erfolgreich beendet haben. Heute schon bei Nachrüstern erhältliche elektronische Gurtüberwachungssysteme sollten nicht "mir nichts dir nichts" wegdiskutiert, sondern ernsthaft angegangen werden, wie es einige Hersteller dem Vernehmen nach auch schon tun.

    Sicher ist sicher – aber es geht noch mehr!

    Kurzum: Die Bussicherheit ist auf einem sehr hohen Niveau. Aber selbst die wenigen Unfälle ließen sich weiter eindämmen, wenn die beste verfügbare Technik auch breit verbaut würde, und das auch für Fahrzeuge mit sehr geringer Stückzahl wie dem Doppeldecker als unbestreitbarem Klimachampion mit traumhaften CO2-Werten pro Personenkilometer (voll besetzt unter zehn Gramm!).

    Und beim Thema Anschnallen müssen wir uns alle an die eigene Nase fassen und überdenken, ob der Griff zum Gurt denn schon zur eigenen Selbstverständlichkeit geworden ist. Nur dann können wir einen echten Quantensprung beim Thema Bussicherheit machen, statt uns alle paar Jahre hilflos in nebulösen "Experten-Diskussionen" ohne greifbare Folgen zu verheddern.


    quelle: https://www.eurotransport.de/artikel/blog-z…s-11238267.html

    Warum nach den Sternen greifen, wenn man einen fahren kann.

    Mitleid bekommt man geschenkt, Neid muß man sich verdienen.

    Die Tochter des Neides ist die Verleumdung.

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